Ich glaube, jeder Mensch vereint viele Rollen in sich. In meinen Rollen bin ich gut darin, zu organisieren und mich zu konzentrieren. Wenn man mit Kopf-Hand-Herz sich einsetzt und auf seine Fähigkeiten vertraut, ist schon viel erreicht. Wobei es meist ein Gegenüber gibt, mit dem man handelt oder verhandelt – darum braucht es immer Abstimmung und Kompromisse. Als Bauingenieurin plane ich meine Infrastrukturprojekte analytisch-rational. Das ist für mein Naturell oft einfacher als die Debatten im Kantonsrat. Dort geht es nicht nur um Fakten, sondern auch um viele Emotionen und taktische Allianzen. Die Herausforderungen kann man in beiden Sphären nur durch Teamwork bewältigen. Meine berufliche Motivation ziehe ich sowohl aus technisch gelungenen Lösungen wie auch aus politischen Erfolgen.
Ich hatte bereits als Kind Interesse für Mathematik und Naturwissenschaften, Freude an Logik- und Konstruktionsspielen, dabei unterstützte mich meine Familie vollkommen. Im Studium konnte ich meine Interessen dann in die Praxis umsetzen. Es ist sehr kreativ, denn es braucht viele Fähigkeiten, man muss planen können und erfinderisch sein. Eigentlich «erfinden» wir uns alle täglich neu. Wer den erfinderischen Mut aufbringt, sich weiterzuentwickeln, sieht meist auch neue Möglichkeiten. Das beflügelt mich seit fast 40 Jahren.
Leider existieren zum Teil immer noch Vorstellungen, dass ein Ingenieursstudium sehr schwierig ist oder dass Frauen sich nicht auf Zahlen verstehen – das Gegenteil ist der Fall. Klar, das Studium braucht viel Physik und Mathe, aber ich denke, ein Medizinstudium ist deutlich schwieriger – und dort gibt es schon seit längerer Zeit mehr Frauen.
Während meiner Ausbildung an der ETH Zürich waren wir Bauingenieurinnen «Exotinnen», oder wie man auf Italienisch sagt «mosche bianche», also ‘weisse Fliegen’, etwas sehr Seltenes. Heute würde ich sagen: wir waren Pionierinnen. Während aktuell rund 15 Prozent der Bauingenieurstudierenden Frauen sind, waren wir damals höchstens zwei bis drei Prozent. Natürlich wurden wir «Exotinnen» von unseren männlichen Kollegen ziemlich bewundert … Wir bekamen aber weder Erleichterungen noch Vorteile und ich fühlte mich stets voll akzeptiert.
Heute sind Computer weit verbreitet, die Komplexität ist grösser, die Kommunikation vielschichtiger. Wir können in der gleichen Zeit mehr umsetzen, unter anderem dank der Künstlichen Intelligenz – KI – was mir aber auch Sorgen bereitet. KI ist nicht wirklich «intelligent» sondern übernimmt Vorurteile aus dem Internet. Die Suche nach «engineer» zeigt fast immer den stereotypen weissen Mann… was unsere Bemühungen sabotiert, Frauen als technische Fachkräfte zu gewinnen. Glücklicherweise gibt es viele neue technische Studiengänge (die nicht so aussehen), wie z.B. Umwelttechnik oder Landschaftsarchitektur, die ein attraktiveres Image für Frauen haben.
Die Ausgewogenheit der Geschlechter ist bei den Bauingenieur:innen noch nicht erreicht. Ausgeglichenheit muss aber nicht zwingend ein Verhältnis von 50 zu 50 sein. Wenn ein Drittel Frauen sind, beginnt man, ihre Anwesenheit als normal zu betrachten. Ich glaube, dass die wahre Gleichberechtigung erreicht sein wird, wenn es auch Frauen mit normalen Fähigkeiten, das heisst ohne aussergewöhnliche Fähigkeiten, schaffen, Spitzenpositionen in allen Bereichen zu erreichen.
Berufstätige Mütter sind zum Glück keine Seltenheit mehr. Aber die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben ist für Männer immer noch einfacher. Meiner Meinung nach hat sich das in der Corona-Zeit, als alle von zu Hause aus arbeiten mussten, etwas geändert. Die Männer, die ich kenne, haben grösstenteils mehr Haus- und Betreuungsarbeit übernommen.
Viele Männer – und vielleicht auch viele Frauen – glauben nach wie vor, eine Frau müsse besser sein als ein Mann, um akzeptiert zu werden, und sie dürfe sich keine Fehler erlauben. Ich sehe das auch in der Politik: einer Frau wird ein Ausrutscher kaum verziehen, während Männer dank ihren etablierten Kreisen eher wieder auf die Beine kommen. Dabei ist es offensichtlich, dass es sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privaten beide Geschlechter braucht, um die Zukunft zu meistern.
Vorbilder aus Wissenschaft und Technologie eignen sich sehr gut, um junge Frauen für eine MINT-Laufbahn zu begeistern. Aber diese Vorbilder müssen heute nahbare, ganz normale Menschen sein. Mein damaliges Vorbild, als Mädchen, war Marie Curie – eine aussergewöhnliche Figur, die nur in Büchern vorkam… Heute hilft es enorm, im persönlichen Gespräch – zum Beispiel wie sie im Swiss TecLadies Netzwerk stattfinden – Berufswege kennen zu lernen und zu sehen, dass es sich lohnt, sich gegen Stereotypen einzusetzen und für seine Interessen zu engagieren.
Die Swiss TecLadies ist eine wertvolle Gemeinschaft der Freundschaft, ein zusätzlicher Kreis neben der Familie, Schule und Beruf, ein inspirierendes Zukunftslabor. Es ist faszinierend, zu zweit oder in der Gruppe zusammenzukommen, um über die Zukunftspläne unserer Mädchen und Mentorinnen zu sprechen. Diese Momente der Verbundenheit über Generationen hinweg ermöglichen es uns, unsere Ideen und Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Ziele zu finden.
Wir leben heute in einer schwierigen Welt voller Unbehagen, Ängsten, falscher Informationen… deshalb ist es umso wichtiger für junge Frauen, echte Menschen zu treffen, die Mut machen und zeigen, wie man sich einbringen kann. Dabei lernen wir ständig voneinander.
Fortschritt bedeutet heute nicht mehr das Gleiche wie noch im 20. Jahrhundert. Es führt kein Weg vorbei an Massnahmen gegen den Klimawandel, der Einsparung von Energie und der Wiederverwertung von Infrastruktur und Rohstoffen im Sinn der Kreislaufwirtschaft. Zur Bewältigung der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen braucht es noch viel mehr weibliche Fachkräfte, nicht zuletzt engagierte Bauingenieurinnen!